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Ein 27 Minuten Epos in vier Akten: „Latent Being“ von Refik Anadol in Berlin

An einem durchschnittlichen Tag werden auf Instagram ca. 95 Millionen Posts geteilt. Dabei landen die unterschiedlichsten Dinge im Netz. Ob Fotos vom letzten Ausstellungsbesuch, Bilder von Freund*innen, spannende Architektur und vieles mehr. Für den Medienkünstler Refik Anadol genau das richtige Material, um seiner Erinnerungsmaschine das Fantasieren beizubringen.

Erleben kann man diese „Maschine“ derzeit in der alten Turbinenhalle des Kraftwerk Mitte in Berlin. Dort präsentiert der aus Istanbul stammende Medienkünstler Refik Anadol seine neueste Arbeit LATENT BEING.

Bei Anadol, der im Übrigen auch mal Praktikant bei Google war und seiner künstlichen Intelligenz (kurz: KI) können wir uns nicht zu 100 Prozent sicher sein, ob wir gerade Werke von Edvard Munch sehen, zufällig der Geburt einer neuen Spezies beiwohnen oder der letzte Clubbesuch doch etwas zu derbe war. Denn das, was in diesem 27 Minuten Epos zu sehen ist, hat gewiss seine ganz eigene Ästhetik. In vier Akten verschmelzen gewohnte Bildlandschaften, zu vollkommen neuen grotesken Bildwelten.

Mensch und Maschine im Einklang

Refik Anadalos gewaltige Bild-Raum-Installation ist eine vielschichtige Arbeit und du wirst, ohne es zu ahnen, ein Teil von ihr. 

Buchstäblich speist sich LATENT BEING aus Millionen frei verfügbaren, visuellen und akustischen Aufnahmen Berlins. Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Interaktion zwischen Mensch und Maschine. Machbar wird diese unfreiwillige Kollaboration unter anderem auch mit Hilfe einer Geokodierung, die sich in einer Plastikkarte befindet (Diese Karte erhält jede(r) Besucher*in am Eingang). Sie erlaubt der KI dich während deines Besuchs zu lokalisieren und deine Bewegungsmuster zu analysieren, sodass der künstliche Apparat die Ergebnisse in seine Berechnungen mit einbeziehen kann.

OBACHT: Laserstrahlen können bei ausreichender Leistung oder Fokussierung Brände und Explosionen auslösen!

Alle 30 Minuten wirst du Zeuge, wie der künstliche Organismus erneut zu Leben erwacht.

Aus der Dunkelheit ertönt ein dumpfer Ton. Er ist sanft und sein Klang erinnert an das Schlagen eines Herzens – die Erinnerungsmaschine beginnt zu atmen. Entlang der hohen Mauern des ehemaligen Heizkraftwerkes leuchten Laserstrahlen die Säulen hinauf. Umlenkspiegel verbinden diese Strahlen miteinander und machen den Anschein, als würde die Maschine rhythmisch und dynamisch ihr Äußeres ertasten und fortwährend mit ihrem immer größer werdenden Gedächtnis kommunizieren.

Plötzlich wird es wieder dunkel

Was folgt ist eine gewaltige Bilderflut auf dem Boden der fast kathedral wirkenden Architektur des Innenraumes. Sie ist voll mit fremden Erinnerungen, Motiven und Geschichten, die in Sekundenschnelle in den Lichtkörper eingespeist werden. Mit epochaler, musikalischer Untermauerung werden sie gebündelt und als eine digitale Wand projiziert.

Der Bass dröhnt, Menschen überlappen sich. Geschlecht, Hautfarbe, Mimik – alles ist im Fluss und verwandelt sich zu etwas Unbekannten. Gesichter werden zu Gebäuden, sie verschmelzen mit dem urbanen Raum und lösen sich wieder in ihm auf. Wo vor kurzem noch das Brandenburger Tor zu sehen war, wird es mit jeder neuen Sekunde zu etwas anderem.

Komfortabel in das „Innere“ einer KI blicken

Das, was da passiert, ist kein Hokuspokus, sondern basiert auf einem ganz bestimmten Algorithmus, der sich StyleGAN-Algorithmus nennt. Dieser verarbeitet über die ganze Zeit Datenströme, die in einem finalen „Meisterwerk“ münden.

Alles ist erleuchtet

Der wohl stärkste Moment der Arbeit! Am Ende des Raumes, ein meterhohes Datengemälde – was für ein sakraler Augenblick. Dieses leuchtende Quadrat und dessen unentwegt schimmernde, pulsierende Oberfläche . So geht Schöpfungsgeschichte 2.0 oder ist es doch nur Effekthascherei?
Man weiß es nicht so genau. In jedem Fall ist LATENT BEING ein Fest der Sinne, insbesondere das visuell interessierte Auge kommt voll auf seine Kosten.

Was bleibt, ist die Annahme in das Innere einer KI geblickt zu haben. Teil eines Prozesses gewesen zu sein, der all unsere Informationen und künstlichen Reize filtert, verarbeitet und zu einem „subjektiven“, sinnlichen Gesamteindruck generiert. Aber auch die Überzeugung, dass für Algorithmen stets Regeln gelten sollten. Schließlich sind es unsere persönlichen Daten die wir, mehr oder minder, freiwillig zur Verfügung stellen. Genügend Stoff, um uns auch künftig künstlichen Fantasien auszusetzen.

Also: Take care of your data 😉

Kleine Randnotiz:

Ermöglicht wurde dieses immersive Erlebnis durch die aus München stammende Kunststiftung LAS (Light Art Space), unter der Leitung des Unternehmers und Kunstsammlers Jan Fischer. Fokus der Stiftung liegt auf die Zusammenarbeit mit Künstler – und Wissenschaftler*innen, die sich im weitesten Sinne dem Medium Licht widmen.

Die Stiftung selbst besitzt noch keine eigenen Räumlichkeiten. Und so verwirklicht LAS Pilotprojekte, die an ausgewählten Orten stattfinden. Es verwundert also nicht, dass das Kraftwerk Mitte, mit seinen altindustriellem Charme und der spürbaren Historie als Location für LATENT BEING herhalten muss.

LATENT BEING strahlt noch bis zum 05.01.2020
Im Kraftwerk Mitte
Haltestelle: U8, Heinrich-Heine Straße
Infos zur Stiftung und zur Ausstellung gibt es hier!

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